Das künstlerische Profil von He Yunchang, in China auch als Ar Chang bekannt, ist von einem verschwenderischen, irrationalen Umgang mit den eigenen physischen und psychischen Ressourcen gezeichnet. Er hat sich einen Ruf als Pionier der Performancekunst etabliert, der existentiell bedrohliche Aktionen nicht scheut. Die nicht-menschliche Umwelt ist seine Herausforderin, deren mechanische Gesetze die Möglichkeitsbedingungen des performativen Geschehens festlegen. He opponiert den Kräften von Flüssen, Kränen und Betonwänden. Er etabliert sich als ein Protagonist der Ausdauer – sowohl als Performer, der sich Extremsituationen stellt; als auch als Künstler, der ein Leben in der sozioökonomischen Realität der Hauptstadt Chinas führt.

"Ich denke, dass alles im weitesten Sinne ‘Verhalten’ ist. Das Verhalten ist die Gesamtdarstellung der uns bekannten und der uns unbekannten Welt."


1967 im Kreis Lianghe, im Westen der Provinz Yunnan, an der Grenze zu Myanmar geboren, verbringt He Yunchang seine Kindheit in der Ungezwungenheit des milden Klimas, und viel Zeit im Freien. Die Beziehung zu Natur und die Frage nach der Rolle, die der Mensch darin einnimmt, wird seinen künstlerischen Werdegang nachhaltig prägen. Golden Sunshine, die titelgebende Performance für diese Ausstellung im Francisco Carolinum, gehört zu den frühen Performances, die noch in Yunnan entstehen. He bemalt seinen Körper und die Wand eines Gefängnisses der Stadt Anning in Gelb, das ihn an die Farbe der Sonne erinnert. Vom Dach hängend hält er einen Spiegel, um das wechselnde Sonnenlicht auf jenen Teil der Wand zu lenken, der stets im Schatten bleibt. Während dieser, zwei Stunden dauernden, zermürbenden Aufgabe verliert He Yunchang zwei Mal aus Anstrengung das Bewusstsein. Golden Sunshine steht in engem thematischen Zusammenhang mit einer anderen Performance von 1999, Dialogue with Water. Darin sucht He, wenige Monate vor seinem Umzug nach Beijing, den Dialog mit dem Wasser des Daying Jiang-Flusses. Nachdem er einen Fleischhauer überzeugt, ihm auf beiden Armen je einen, Zentimeter-tiefen Schnitt zuzufügen, lässt sich der Künstler an einem Kran kopfüber über dem Fluss aufhängen. Für eine halbe Stunde verletzt er den Fluss mit demselben Messer, sein Blut rinnt an der Klinge entlang ins Wasser. Da der Daying Jiang mit einer Geschwindigkeit von 150 m/min fließt, beschreibt He, dass er diesem über die Dauer der Performance eine 4.500 m lange Wunde zugefügt hat. Sein Dialogue with Water ist die Suche nach einer Verbindung, zur Heimatprovinz und zur Natur der eigenen Herkunft.

Nachdem er an der Kunstakademie in Yunnan sein Malereistudium abschließt, zieht er 1999 in die Hauptstadt. Zu diesem Zeitpunkt ist Beijing das Zentrum der Kunstproduktion in China. Es ist die Blütezeit der yishucun, der Künstlerdörfer, die wichtige Orte der Versammlung und des Experiments sind. Die rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen der 1990er Jahre, die von inner-chinesischen Migrationsbewegungen begleitet werden, führen zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, als dem primären Ausdrucksmittel vieler Künstler innen. Die Konkretheit und Verletzbarkeit der Physis entgegnet der Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Internationalisierung und Privatisierung. Zentrale Themen, denen sich Performancekünstler innen dieser Zeit zuwenden, sind die eigene Identität, sowie die räumlichen und zeitlichen Koordinaten, die für deren Wahrnehmung jeweils bestimmend sind. Im Kontext dieser Entwicklungen stehen die Arbeiten He Yunchangs, die diesen an seine physischen und psychischen Limits bringen. Anders als andere Künstler innen dieser Zeit, wie Zhang Huan, Zhu Yu, oder Sun Yuan und Peng Yu, sind seine Performances von einer primären Qualität des Durchhaltens gekennzeichnet, mit der er sich gegen scheinbare, mitunter auch tatsächlich hoffnungslose Situationen, und gegen die Gesetze der Natur zu behaupten versucht. In Beijing arbeitet He zunächst distant im Einzugskreis des berühmten East Village. Seit vielen Jahren hat er nun sein Studio in Caochangdi, einem als Künstlerresidenz bekannt gewordenem Viertel an der 5. Ring Road. Auch das Beijing-Atelier von Ai Weiwei befindet sich in Caochangdi, bis dieses aus politischen Gründen abgerissen wird.

Künstlerisch ist He Yunchang ein Einzelgänger, der im Gespräch gerne auf seiner sozialen und institutionellen Unabhängigkeit beharrt.

Für seine Performances ist die Präsenz eines Publikums jedoch, mit wenigen Ausnahmen, bedeutend. Als er sich in One Meter of Democracy bei vollem Bewusstsein an seiner Körperseite eine 1m lange Schnittwunde zufügen lässt, verlässt er sich tatsächlich existentiell auf die anwesenden Anderen. Einige der 25 Freund innen, Künstler innen und Kurator innen, die zuvor geheim abstimmten, ob die Performance überhaupt durchgeführt werden sollte, halten ihn am Tisch fest, damit er nicht vor Schmerzen krampft und sich dem Skalpell entwindet. Ihre Zustimmung ist nur scheinbar das Resultat eines demokratischen Prozesses: Zunächst hatte eine Mehrheit nämlich gegen die Durchführung des Schnitts gestimmt. Der Künstler selbst erzwang die Wiederholung des Votums, so oft, bis endlich die Mehrheit eine positive Stimme abgegeben hatte. Danach wurden die Anwesenden zu unmittelbaren Zeugen ihrer Entscheidung, die an He Yunchangs Körper vollzogen wurde. Auch ob des Titels wird One Meter of Democracy vielfach als direkt politischer Kommentar verstanden. Die Radikalität des Angebots, innerhalb eines engen sozialen Kreises über die das absichtsvolle Verwunden des Körpers zu entscheiden, ist jedoch auch im Kontext konfuzianischer wie daoistischer Philosophie zu kontextualisieren. Dort wird der Körper in Verbindung mit kosmischen und politischen Strukturen gesetzt, und die menschlichen Organe und Gewebe mit einer noumenalen Qualität bedacht. Hes Arbeiten stehen in Verbindung mit diesen beiden Traditionen, deren klassische Texte für den Künstler bereits in jungen Jahren eine prägende Lektüre darstellten. Sie vermessen ein Verhältnis des Körpers zum Sozialen, das einen kultivierten Umgang mit dem eigenen Physis nicht als eigenverantwortliche Aufgabe, sondern als soziale Notwendigkeit bestimmt. Folglich lässt sich der Einfluss dieser philosophischen Traditionen gerade auch für die chinesischen Performancekunst nachvollziehen, wo physische Präsenz und die Leiberfahrung von zentraler Bedeutung sind.

In China entstanden etwa der Mitte der 1980er Jahre die ersten Performances. Wie auch in Europa und den USA war die Agenda dieses neuen Genres zunächst primär darin bestimmt, künstlerische Konventionen zu durchbrechen. Trotz der Konflikte mit offiziellen Kulturinstitutionen und trotz eines zunehmend restriktiven politischen Umfelds, insbesondere in den letzten Jahren, lässt sich eine klare zeitliche Entwicklung anhand künstlerischer Gruppierungen und individueller Biographien charakterisieren. Die für He Yunchangs Performance-Kunst im Chinesischen gebrauchte Bezeichnung, xingwei yishu, wäre am ehesten mit ‘Kunst des Verhaltens’, ‘Kunst sich zu verhalten’ zu übersetzen. Gemeint ist damit nicht nur die physische Form des Ausdrucks, sondern vielmehr die künstlerische Einschreibung in eine gestische Gesamtstruktur sozialen Verhaltens. Der Wert dieser Gesamtstruktur wird von der Gemeinschaft bestimmt, und steht in seiner Bedeutung über den individuellen Ausdrucksfähigkeiten. Als politisches Ideal war die davon abgeleitete Vorstellung eines gesellschaftlichen Kollektivismus in China schon lange vor der maoistischen Zeit bestimmend, und prägt die Rahmenbedingungen, wie das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv gedacht werden kann. Der Körper beweist sich dabei als effektives Mittel relationaler Erfahrbarmachung von Privatem und Öffentlichem, Innen und Außen, Aktivität und Passivität. Sozialpolitische Konflikte und Formen des Widerstands werden durch ihn performativ fasslich.

Im chinesischen Kontext kommt der Dokumentation von Performances, wie sie in dieser Linzer Ausstellung zu sehen sind, besondere Bedeutung zu: Die fotografische (und zunehmend auch filmische) Medialität ermöglicht es Performer innen, mit den schwierigen Bedingungen und Möglichkeiten öffentlicher Präsentation in einer politisch repressiven Umgebung umzugehen. Dabei hat die moralische Regulierung des öffentlichen Raums zur Konsequenz, dass sich Künstler innen aus Hes Generation oftmals einer rigiden Selbst-Zensur unterwerfen. Dieser, meist unbewusst eingesetzte Schutzmechanismus führt oft dazu, dass Performances in privaten Räumen oder, wie in Hes Fall, in der Natur abgehalten werden, und lediglich die mediale Dokumentation der Live-Arbeit für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich wird.

Mit Ai Weiwei, der die Ausstellung "Golden Sunshine" kuratiert hat, verbindet He Yunchang eine lange Freundschaft. Ihre Ausstellungspfade haben sich über die Jahre immer wieder gekreuzt. Ai Weiweis Rolle als Freund und Mentor reflektiert sich auch in der Tatsache, dass He Yunchang ein Studio im Caochangdi, dem von Ai mitinitiierten Künstlerviertel im Nordosten Beijings bewohnt. Ai präsentiert He bereits im November 2000, zusammen mit weiteren Künstler innen, in der richtungsweisenden Ausstellung "FUCK OFF", die Ai und Feng Boyi zusammen in Shanghai organisieren und die schon nach einigen Tagen schließen muss. Der chinesische Titel, den man mit „Unkooperativer Ansatz“ (Bu hezuo fangshi) übersetzen kann, zeugt von einer milderen Sprachwahl, verweist aber zugleich auf die systemische Integration der Kunst in China, gegen die sich die Beteiligten zur Wehr setzen wollen. Von dieser Ausstellung sollte es mit "FUCK OFF 2" im Jahr 2017 eine Fortsetzung im niederländischen Groninger Museum geben. Die stärker beschränkte künstlerische Freiheit in China, 13 Jahre später, verleiht dieser, an ein globales Publikum gerichteten Fortsetzung, zusätzliche Relevanz. Die Entscheidung, Ai Weiwei als Kurator der Linzer Ausstellung einzuladen, erkennt die historische Dimension an, die diese Künstlerfreundschaft im Kontext des Peformance-Schaffens in China bereits jetzt hat.

Physische Marginalisierung als Mittel zum Widerstand

An unterschiedlichen Stellen der klassischen konfuzianischen Texte wird die Verbindung des menschlichen Körpers zur kosmologischen Ordnung beschrieben. Beispielsweise stellt die Theorie tianren ganying, die im 2. Jh. v. Chr. erstmals vom Gelehrten Dong Zhongshu formuliert und vielfach interpretiert wurde, ein Konzept der Entsprechung menschlicher Anatomie mit der Natur und dem Himmel vor. In diesem Menschenbild hat jeder Teil des Körpers eine Komponente in der natürlichen Welt, die ihm strukturell entspricht. Auch in der Ethik des Konfuzius wird der menschliche Körper über eine Art Gleichung verständlich gemacht. Sowohl der traditionelle Konfuzianismus als auch dessen moderne Varianten betonen die Regeln des guten Anstands als Konstante von zwischenmenschlichen Beziehungen. Darin kommt der Tugend der ‘Kindlichen Pietät’ (xiaoshun) große Bedeutung zu. Diese handelt von der Liebe der Kinder zu ihren Eltern und den familiären Ahnen. Nach Konfuzius bildet sie die ‘Grundlage der Tugend’ einer Gesellschaft, da sie bedingungslose Sicherheit in einem System von Beziehungen, Verhaltensweisen und Ansprüchen schafft. Im gegenwärtigen China zeigt sich, wie ein philosophisches Konzept politische Bedeutung entfaltet, wenn Verwandte vor der Beförderung eines Beamten befragt werden, ob dieser sich wohl gut und anständig um seine Familie kümmere. Gesellschaftliche Autorität ist über den Kontext von Weltanschauung, Kultur und Zivilisation definiert. Dieses Beispiel demonstriert, wie die heutige chinesische Gesellschaft Anschluss an eine Norm sucht, die in einer ‚5000 Jahre währenden Zivilisation‘ als ‚Tradition‘ legitimiert wird.

Beiden genannten Konzepten, tianren ganying und xiaoshun, ist gemein, dass sie den Körper als Resonanzraum instrumentalisieren. Erst im ‘kultivierten’, das heißt, im sozialisierten Umgang mit diesem artikuliert sich die Wertschätzung für die eigenen Eltern und Ahnen, bzw. das Bündnis des Menschlichen mit dem Kosmischen. Im Kontext der jüngeren politischen Geschichte ist der Körper somit als ein Medium zu verstehen, durch das sich die Integration einer historischen Tradition in ein parteipolitisches Narrativ vollzieht. Als kultivierter Körper ist er zu einem Paradigma politischer Ordnung erhoben, das der Errichtung einer gegenwärtigen ‘harmonischen Gesellschaft’ und ‘harmonischen Welt’ dient – jenem Ziel, zu dem der chinesische Staatspräsident Hu Jintao erstmals bei einer Rede anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 2005 konkret aufrief.

Wenn sich He Yunchang im Beisein von Freunden und Kollegen eine schwere Verletzung zufügen lässt, entscheidet er, in jene symbolischen und spirituellen Hierarchien, die ihn – und alle anderen Anwesenden – umgeben, bewusst einzugreifen. Resultierend aus diesem Entschluss, wird He noch sein ganzes Leben eine lange Narbe tragen. Dem Körperverständnis des Performers kann eine radikal subjektive Intention zugesprochen werden, die sich von einer ästhetischen Qualität und dem Bedürfnis, ein Schockmoment zu generieren, deutlich unterscheidet. Dem Anspruch an filiale, kosmische und politische Harmonie entgegnet He stattdessen in einer ‘primitiven Pragmatik’ des körperlichen Umgangs. An die Stelle der Selbstkultivierung, durch die der Einzelne seinem Platz im Beziehungsgefüge gerecht werden sollte, tritt ein Akt der bewussten Marginalisierung – ein Akt der Selbstverletzung. Über seinen Körper befreit der Künstler sich und die Anwesenden temporär von einer sozialen Verpflichtung, und von der Vorstellung relationaler gesellschaftlicher Nützlichkeit.

In Eyesight Test (2003) starrt He Yunchang, nackt an einen rostigen Eisenstuhl festgebunden, für eine Stunde in 10.000 Watt Licht, das ihm aus dutzenden Glühbirnen entgegen strahlt. Ein wenig zynisch erinnert das Design des Stuhls an klassische Möbel der Ming-Dynastie. In voller Absicht erduldet der Künstler, wie seine Netzhaut bleibende Schäden erleidet, die ihn partiell blind machen werden. One Rib (2008) ist eine weitere Performance, in der He Yunchang mit seiner Leiblichkeit als künstlerische Methode gegen sozialpolitische Tabuisierung und Bevormundung antritt. Darin lässt er sich ohne jegliche medizinische Notwendigkeit, diesmal jedoch unter Betäubung, seine achte Rippe im linken Teil des Rückens chirurgisch entfernen. Der für den 6. August geplante Eingriff muss um zwei Tage, auf den 8. August verschoben werden – ein Umstand, der die symbolische Motivation der Aktion noch stärker in den Vordergrund treten lässt, da am selbigen Tag die Olympischen Spiele in Beijing eröffnet werden. Der selbstbestimmte Eingriff in den Körper wird filmisch und fotografisch begleitet. Diese Dokumente und das Artefakt Rippe werden im Herbst desselbigen Jahres in der Ausstellung The Wings of Live Art in der Galerie Urs Meile in Beijing gezeigt. Weiters resultiert eine fotografische Serie aus dem Projekt, die den Künstler mit jeweils einer Frau, die in seinem Leben eine bedeutende Rolle einnimmt, im gemeinsamen Portrait zeigt. Die mit Gold eingefasste Rippe hat er diesen Frauen, seiner Mutter, seiner Schwester, seiner ehemaligen und seiner derzeitigen Ehefrau, wie eine Kette um den Hals gelegt. Als Abjekt kontrastiert der Knochen die in den Bildern absichtlich überzeichnete Harmonie der menschlichen Beziehungen.

"Mein einziger Anspruch ist es, am Leben zu bleiben."


Vor der Durchführung seiner Performances überarbeitet He Yunchang oft noch sein Testament. Es ist ein praxeologisches Verständnis vom eigenen Tod, das dessen Möglichkeit als Konsequenz der eigenen Handlung schlicht anerkennt. Wiewohl der Tod jene Kraft ist, die am äußeren Rand des geplanten Vorhabens wirkt, ist Hes Zugang nicht appellativ. Die Performances sind Dialoge mit dem physischen Schmerz und den Grenzen menschlicher Belastbarkeit, jedoch kein Bekenntnis zu Thanatos. Zeitliche Vorgaben begrenzen die künstlerische Auseinandersetzung mit der Mortalität in pragmatischer Hinsicht. So ist beispielsweise die Dauer der Arbeit Rock in the Niagara Falls, der Versuch des Künstlers nackt auf einem Fels in den Niagara Fällen zu stehen, auf 24 Stunden festgelegt. Diese temporale Einheit entspringt nicht der intuitiven Eingebung, als sie vielmehr das Stundenmaß eines Kalendertages spiegelt. Derart steht das Abwägen der eigenen Widerstandsfähigkeit, gegen aktiv lebensbedrohliche Kräfte, auch wieder in Zusammenhang mit dem Sozialen. Die Physis arbeitet sich an der genormten Zeit ab, die, dem Entwicklungsmuster der westlichen Moderne folgend, die Grundvoraussetzung der heutigen industrialisierten und globalisierten Gesellschaft Chinas bildet.


Stein und Beton – Metaphern einer realen Utopie

He Yunchangs Herangehensweise wird häufig als ‘unproduktiv’ bezeichnet. Dieser Zuschreibung wird er insbesondere in The Rock tours around Great Britain (2006-2007) gerecht. In dieser Performance trägt er einen 3.6 kg schweren Stein 120 Tage lang um die Insel – nur, um den Stein am Ende dieser (Tor-) tour wieder am selben Ort abzulegen, wo er ihn davor gefunden hat. Ähnlich stellt sich die Situation in Heavy Drinker (2011) dar, einer dreißigminütigen Aktion an der Küste von Qinhuangdao in der Provinz Hebei, bei der der Künstler das Wasser aus dem Meer wegzutrinken versucht. Dabei stellt er die Frage, wie viele Tage die Weltbevölkerung bräuchte, um das Meer leer zu trinken. Und auch in Moving a Mountain (1999) konfrontiert sich He mit einer ähnlich vergeblichen Bemühung. Für wiederum eine dreißigminütige Dauer versucht er, einen Felsbrocken zu verschieben. Mit diesem erratischen Verhalten spielt He wiederholt auf die Ohnmacht an, die chinesische Bürger innen angesichts der Gleichgültigkeit der Regierung in gesellschaftlichen Krisen erleben. Der Stein fungiert als Instrument zur subtilen politischen Kritik, als der Künstler die alte Fabel Liezi-Tangwen des daoistischen Philosoph Liezi zitiert, in der ein alter Mann sich entschlossen der Aufgabe annimmt, einen Weg durch ein Gebirge zu graben. Jenen die ihn verspotten, antwortet er – wissend dass er nicht mehr in der Lage ist, diese Herausforderung zu Lebzeiten zu vollenden – dass die Generationen nach ihm den Berg endgültig aus dem Weg räumen würden. Liezis Geschichte endet mit einem deus ex machina Moment: Die Götter sind schließlich von seiner Entschlossenheit so bewegt, dass sie die Berge trennen und der Weg frei wird. In eine Rede, die Mao Zedong am 7. Nationalkongress der Kommunistischen Partei 1945 abhält, appropriiert dieser die Fabel politisch. Mao assoziiert die Kräfte des Imperialismus und Feudalismus als jene zwei Berge, die nur mit Hilfe des ungebändigten Willens der Partei aus dem Weg geräumt werden könnten. In seiner Version nimmt das Volk die Rolle der Götter ein, denn durch das Volk könne es gelingen, die politische Vision zu erreichen. Vor diesem Hintergrund artikuliert He Yunchangs Aktion einen Überdruss politischer Desillusionierung, und erteilt eine symbolische Absage an den Kollektivismus als Basis des ‘Sozialismus chinesischer Prägung’.

In der Performance Beyond Tianshan (Mountains of Sky) (2002) findet sich das Motiv des Steins durch einen Block aus Zement ersetzt. He Yunchang stellt sich einer 1,25 Kilo-Bombe mit seinem Körper entgegen, indem er mit aller Kraft einen Zementblock zwischen sich und die Bombe hält. Auch Zement ist ein Material, das in einer Reihe von He Yunchangs Performances von Bedeutung ist. Er verwendet es zunächst in Beyond Tianshan, später u.a. auch in Keeping Promise (2003), Casting (2004), A Sack of Cement (2004) und in The General’s Command (2005).


"Zement und ich passen auf einigen Ebenen, in einigen Eigenschaften gut zusammen. Nur wenn einem etwas am Herzen liegt, explodiert das Potenzial. Und ich glaube, dass ich bestimmte Eigenschaften habe, die mit den besonders bescheidenen, unprätentiösen Qualitäten von Zement übereinstimmen. Zement ist eigentlich nur ein Staub, der unter besonderen Bedingungen, zum Beispiel im Kontakt mit Wasser, fest wird und dann aber außergewöhnliche Härte und Festigkeit erhält."


Als Material suggeriert Zement zugleich Reduktion und Einfachheit, wie auch Grobheit und Härte. Der Künstler reagiert darauf in Zuständen des Ertragens und Ausharrens – es ist ein Überlebensmodus, mit dem er dem Material antwortet. In Casting geht diese Bereitschaft soweit, dass er sich nackt in einen Zementblock einschließen lässt und darin 24 Stunden alleine ausharrt. Dieses Konzept einer ‘defensiven Performativität’, das den Einblick in das Geschehen verweigert, erteilt zunächst eine klare Absage an die Schaulust des Publikums; als der Performer sich dem Blick derjenigen entzieht, die gekommen sind, um ihn zu betrachten. Die räumliche Isolierung im Betonblock lässt sich andererseits auch als Kommentar auf die Urbanisierung Chinas lesen. In seiner Zuwendung zu dem inorganischen, aber von Menschenhand hergestellten Material, reflektiert He, wenn auch nicht explizit, auf die sozio-ökonomischen Bedingungen, die das Leben der Menschen seit den 1990er Jahren prägen. Der Betonverbrauch Chinas war alleine in den Jahren 2011 bis 2013 so hoch wie der Betonverbrauch der USA im gesamten 20. Jahrhundert, wodurch sich kleine und mittelgroße Städte in kürzester Zeit in Betonwüsten verwandelten. Der anonyme Charakter des modernen Stadtbilds ist dabei ein gewollter Effekt, um politische Einheit und fortschrittliche Entwicklung zu demonstrieren. Dass die urbane Entwicklung gesellschaftliche Ungleichheiten und soziale Marginalisierung jedoch zunehmend verstärkt hat, ist insbesondere in Beijing, dem Wohnort des Künstlers, spürbar. An der sukzessiven Auseinandersetzung mit dem Baustoff lässt sich daher auch seine Beschäftigung mit den Ordnungsstrukturen der postsozialistischen chinesischen Gesellschaft nachvollziehen.

Entgegen politischer und gesellschaftlicher Beschränkungen zeigen He Yunchangs Performances den Körper als uneingeschränkt wichtiges Medium des Ausdrucks persönlicher Freiheit. Dieser kann willkürlich bestraft, verkauft oder verletzt werden, und wird zum Maß der Erfahrung von Ausdauer, Freiheit, Lust und Schmerz. Die körperliche Erfahrung ermöglicht ein Verneinen, ermöglicht eine Absage an die gesellschaftliche Agenda von synchroner Prosperität. Dabei schenkt Hes künstlerisches Selbstverständnis der Tatsache, dass Performancekunst als Genre in China von offizieller Seite verboten ist, wenig Aufmerksamkeit: In den letzten fünf Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Jade, die in China vor allem als Schmuckstein und Wertanlage gesehen wird. Die Arbeit am Stein, einem mythisch und ethisch komplex belegten Material, wird dabei zum strukturgebenden Moment im Tagesablauf des Künstlers. Eine solche, routinierte Beschäftigung vermag, insbesondere für ein ‘westlich’ geprägtes Denken, im Widerspruch zu den physisch radikalen Performances zu stehen. Was wie eine Abkehr vom ‘Happening’, wie der Rückzug ins Atelier erscheint, ist jedoch eher als eine weitere Modalität in He Yunchangs Praxis der Ausdauer zu bezeichnen. Sein künstlerisches Werk reflektiert die ausgreifende Dimension, wie umfassend He xingwei yishu, die Kunst des Verhaltens begreift. Denn Hes künstlerisches xingwei unterscheidet sich von inszenierten Veranstaltungen, von Performances mit Aufführungscharakter. Es ist vielmehr eine Maxime im alltäglichen Tun, die zugleich das Potential zur soziopolitischen Aktion enthält. Wenn He Yunchangs künstlerische Arbeit als Handlungsfeld verstanden wird, in dem opponierende Kräfte gegeneinander antreten, lässt sich diese Haltung als nachdrückliche soziale Forderung interpretieren. Es handelt sich bei seinen Performances daher wesentlich auch um Akte der Sympathie mit der Willenskraft derjenigen, die in einem politischen System nicht sichtbar sind und als ‘Schwache’ gelten. In seinen Arbeiten, die das Überschreiten körperlicher Grenzen, Zeit- und Raumerfahrungen zum Thema haben, ist es dieser Fokus auf die Autonomie des Individuums, der letztlich bemerkenswert ist.


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